1998

16.1. – 6.2.98

Eternal Express

Roland Bergère, Ingo Gräbner

Foto-Aktion, Ausstellung

„Dein Bild für die Ewigkeit!“ hieß es im Untertitel. Die Ironie dieses Versprechens knüpfte an die seltsame Erwartungshaltung gegenüber den eingefrorenen Momenten der Fotografie an. Eine gelbe Kappe mit dem Schriftzug „Eternal Express“ auf dem Kopf und mit Videokamera und Fotoapparat bewaffnet, so zogen Bergère und ich durch die Vernissagen der Internationalen Photoszene im Herbst 97. Heraus kamen bei mir 500 schnelle Portraits der “Szene“, die ich als langen Fries in Kontaktabzugsgröße (24mm x 36mm) auf einer fortlaufenden schwarzen Holzleiste im vorderen Raum zeigte. Bergère stellte bearbeitete Videostills auf einem durchlaufenden Band aus, das als Möbiusschleife aufgehängt war. Im mittleren Raum hing ein Vitrinenschrank mit leeren, nummerierten Fotoalben, leeren Videokassetten und in dreißig ebenfalls nummerierten Schubladen mit leeren Disketten.

7.3. – 30.3.98

Hau ab, du Sau!

Below, Bergère, Broska, Diderich, Gräbner, Grauß, Hoff-mann, Kho, Klinger, Knippenbergh,
Luhn, Menzel, Moll, Münz, Parzival, Pütz, Ronig, Scharfenberg, Tauchert u.a.

Performances, Ausstellung

Der Untertitel lautete: „Kommunikation in Deutschland“, und das Projekt war Bestandteil der Langzeitstudie „Zeitriss“. Jürgen Kisters schreibt dazu im KStA vom 17. März:
„‚Hau ab, du Sau!‘ heißt die knappe Bemerkung im Atelier Sömmering, in Spiegelschrift auf die Wand geschrieben, so dass die Betrachter sich gleich im Spiegel nebst Bemerkung als die betreffende ‚Sau‘ erkennen. Auch in den anderen (Kunst-)Objekten in der gleichnamigen Ausstellung wird immer wieder auf die Rolle der Betrachter angespielt. Sind sie Mitspieler oder distanzierte Beobachter?“ Hanjo Scharfenberg ging mit dem Titel in seinem Vortrag à la Jandl vor und variierte ihn in allen erdenklichen Möglichkeiten. Ich kramte das faschistoide Albers-Lied vom Neger Jim aus, Dieter Pütz interpretierte das Thema exzessiv und suizid; ähnlich Rudolf Hoffmann mit den blanken Kabelenden im Mund und einem Stromblackout. Parzival schrie seinem Spiegelbild den Evergreen entgegen: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn...“

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6.6.1998

Niemandsland

Braden, Buchwald, Diderich, Gräbner, Gratkowski, Grenzius, Hinterecker, Lindow, Menzel,
Münz, Parzival, Pütz, Reschkowski, Scharfenberg u.a.

Aktion im Öffentlichen Raum

Der Untertitel lautete: „Eine Reise in die Abgründe der Besitzverhältnisse“. Worum ging es? Die Stadt Köln besaß hinter dem Melatengürtel ein 40.000 qm großes altes Bahngelände, auf dem nach Einstellung des Bahnbetriebs Schrebergärten angelegt waren. Vor vier Jahren wurden diese dem Erdboden gleichgemacht und jetzt sollte das von der Natur zurückeroberte Gelände einem Baumarkt weichen. Der fortschreitenden Versiegelung setzten wir eine anarchische Poesie entgegen. Mitten im Gelände thronte die Königin des Niemandslandes unter einem Baldachin, am Rande eines vierzig Meter langen Teppichs grub ein Sklave Pflastersteine aus, und aus langen Plastikrohren drang leise Musik. Auf einer alten Trasse eine lange Reihe Hühnereier, ferne Klänge eines Saxofons, ein Herr im Anzug, der schwarze Streifen von einer Rolle riss, eine Frau mit Wolfsmaske, ein heftiges Gewitter, eine Fee in Weiß schob ein Kinderspielzeug über den Teppich, ein großer Busch in ein rotes Tuch gehüllt, auf einem Hügel drei Gipshasen in Schwarz, Rot, Gold...
Heute? Ein Baumarkt und viele Parkplätze, was sonst!

6.6.-30.7.98

Angst vor moderner Kunst ist heilbar

solitaire FACTORY

Schaufensterinstallation

Dieses Projekt war Bestandteil der Langzeitstudie „Zeitriss“ und startete parallel zur Aktion „Niemandsland“. Die Besucher des Niemandslandes fanden den Wegweiser zum Gelände im Atelier Sömmering, das so gesehen Ausgangspunkt war. Nicht von ungefähr wurden sie hier mit der Schaufensterinstallation der solitaire FACTORY empfangen. Der Titel als großer Schriftzug an der Wand, darunter das berühmte „Schwarze Quadrat“ à la Malewitsch, davor eine schwarzgefleckte große Dogge aus Porzellan, das Quadrat betrachtend. Die Kunst als Niemandsland im Bewusstsein des Betrachters. Mit wem wurde der Kunstinteressierte da verglichen?
Die solitaire FACTORY, eine Künstlergruppe aus Leipzig (Carsten Busse, Fritz Selbmann, Ö.T. Wauer), garantiert in all ihren Projekten ein Wechselspiel zwischen Identifikation mit populären Mythen und ihrer gnadenlosen Demontage. Der Warhol-Bezug im Namen ist bereits der Auftakt dieses subversiven Kunstschaffens. Dabei gilt das besondere Augenmerk den Ikonen der DDR-Kultur. Busse und Wauer mit den Konzepten und ihrer Umsetzung, Selbmann mit den Strategien und der Logistik.

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30.8.98

Wirklichkeitsfernsehen

Gräbner, Hoffmann, Ibsch, Lafleur, Parzival, Ronig, Stahl, Tauchert

Diskussion, Aktionen

Oh no! Aber man weiß in der Kunst vorher ja oft nicht, was nachher kommt... An sich geht die Idee des „Wirklichkeitsfernsehens“ auf ein Projekt von Inge Broska und Hans-Jörg Tauchert zurück, bei dem sich beide durch leere Fernsehgehäuse mit Besuchern über die Medienwelt unterhalten. Als einsame Rufer in der Wüste der massen-medialen „Oneway Road“. Wenn man so will, ist dieser Zustand heute durch das Internet überholt.
In einem Text von Enno Stahl zu dem Projekt heißt es: „Fernsehen als produzierte, von Menschen gemachte Realität implodiert in der Masse synchroner Angebote, das zukünftige Internet oder Computerfernsehen hat darum fast nichts mehr mit interaktiver Kommunikation, aber alles mit gesichtslosem Konsum zu tun.“ Wie wir wissen, war das eine völlige Fehleinschätzung der Entwicklung. Jedenfalls kamen wegen schlechter Werbung kaum Zuschauer, einige Teilnehmer reichlich zu spät und die Kunst nicht auf ihre Kosten. Da änderte der gefakte, lautstarke Streit von Rudi und mir im benachbarten Hof auch nichts mehr dran.

4.9. – 26.9.98

Young Dutch Photography

de Bruin, Janssen, van Kaam, Knust, Meinema, van Nimwegen, Roodenburd,
Tankovski, de Vos

Fotografie

Aus dem Katalog zur Internationalen Photoszene: „Das Atelier Sömmering zeigt Arbeiten von neun jungen Photographinnen und Photographen der ‚Academie voor Fotografie Amsterdam‘. Oliver Rausch, bereits 1996 mit einer Einzelausstellung im Atelier vertreten, arbeitet seit zwei Jahren als Dozent an der Akademie und betreut das Projekt als Kurator. Sinn des Projekts ist, die spezifischen Arbeitsweisen und Schwerpunkte der niederländischen Photoakademien einem deutschen Publikum transparenter zu machen.“
Das Spektrum der gezeigten Arbeiten war breit gefächert. Von der Design- und Werbefotografie über poetische Inszenierungen bis zu dokumentarischen Arbeiten war alles vertreten. Schwarzweiß und Farbe, Baryt und PE, Objekte, Einzelbilder und Sequenzen - die ganze Skala, die man sich denken kann. Am 19.9. kam es im Rahmen eines offenen Portfolio-Nachmittags zu einem Gedankenaustausch mit einer Fotoklasse der KHM und Fotostudenten aus Münster.

2.10.98

Ich hab‘ nichts gemerkt!

Gräbner, Hinterecker, Hoffmann, Lawrie, Moll, Overbeck, Witzmann u.a.

Performance-Soirée

Ein Jahr „Zeitriss“ und der Reflex auf die gesamtdeutschen Befindlichkeiten. Natürlich vor allem, was die Kommunikation anbelangt. Symptomatisch das einschlafende Interesse auf der Leipziger Seite. Oder vielleicht doch der zunehmende ökonomische Druck, der die Fördermittel für freie Projekte versiegen läßt. Jedenfalls fehlten die Mittel für Reisekosten, und so blieb der letzte Akt des Projekts bis auf ein Fax eine reine “Wessi-Arie“. Zum Kommentar aus Leipzig: „Der eine resigniert, der andere resümiert, der andere reüssiert, der vierte reagiert, der fünfte regiert.“ „Ich hab‘ nichts gemerkt!“ verfolgte in unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen die Psychologie der Nichtwahrnehmung, der Verdrängung, der Missachtung. Ist der Kopf im Sand oder nur kalkuliert ausgeblendet? Desensibilisierung als menschlicher Schutzmechanismus in allergischen Zeiten schafft womöglich unmenschliche Verhältnisse... Prompt bekam man beim Betreten des Ateliers vom „Orange Man“ eine dieser Südfrüchte an den Kopf. Wie gesagt, „Desensibilisierung.“ Magnus Lawrie war gerade erst am Nachmittag aus Schottland aufgetaucht und spontan in seiner Berufskleidung angetreten.

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